Barrierefreie Websites nach BFSG - ab 2025 wird es ernst
Autor: Peter Schnoor | Lesezeit: 7 Minuten
Worum es geht
Im Jahre 2017 lebten über 13,04 Millionen Menschen in Deutschland mit einer zeitweiligen oder dauerhaften Beeinträchtigung, 7,8 Millionen davon mit einer anerkannten Schwerbehinderung - Tendenz steigend. Das bedeutet, dass rund 16 Prozent der Bevölkerung aufgrund einer Beeinträchtigung ihrer Körperstruktur oder -funktion auf Hürden im Alltag stoßen, die ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erschweren (Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales). In den allermeisten Fällen haben diese Menschen ihre Behinderung erst im Laufe ihres Lebens, beispielsweise durch Krankheit, Unfall oder im Alter, bekommen.
Um Barrieren für diese Menschen abzubauen und entsprechende Regelungen EU-weit anzugleichen, hat die EU im April 2019 die "Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen" erlassen. Diese Richtlinie wurde über das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in deutsches Recht überführt. Dieses Gesetz wiederum ermächtigt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, in Zusammenarbeit mit weiteren Ministerien eine Verordnung herauszugeben, die die genauen Anforderungen zur Barrierefreiheit für Produkte und Dienstleistungen regelt (§3 Abs. 2 BFSG). Das haben diese Ministerien inzwischen mit der Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV) getan.
Was wird in BFSG und BFSGV geregelt?
Wen aber betrifft das BFSG und die BFSGV nun genau? Und was wird darin geregelt?
Das BFSG regelt grundlegend, dass bestimmte Produkte und Dienstleistungen künftig strengen Barrierefreiheitsanforderungen unterliegen. Dazu gehören Produkte wie:
- Computer und ihre Betriebssysteme
- Smartphones
- Geldautomaten
- Fahrkarten- und Check-In-Automaten
- E-Book-Lesegeräte und
- Router,
sowie Dienstleistungen wie
- Telekommunikationsdienstleistungen
- E-Books
- Messenger-Dienste
- Bankdienstleistungen
- Personenverkehr und seine digitalen Lösungen (wie Fahrkarten-Apps) und
- der elektronische Geschäftsverkehr.
Der letzte Punkt wirkt auf den ersten Blick unscheinbar, aber dahinter verbirgt sich die wahrscheinlich größte Gruppe von Dienstleistungen. Denn laut Begriffsdefinition in §2 Nr. 26 BFSG umfassen diese Dienstleistungen "Dienstleistungen der Telemedien, die über Webseiten und über Anwendungen auf Mobilgeräten angeboten werden und elektronisch und auf individuelle Anfrage eines Verbrauchers im Hinblick auf den Abschluss eines Verbrauchervertrags erbracht werden". Auf gut Deutsch: Fast alle Websites und Apps, die auf den Vertragsschluss mit einem Verbraucher ausgerichtet sind, müssen die Barrierefreiheitsanforderungen des BFSG erfüllen.
Ausnahmen gibt es lediglich für Kleinstunternehmen (mit weniger als 10 Mitarbeitern oder unter 2 Millionen Euro Umsatz, §2 Nr. 17 BFSG) und für unverhältnismäßige Belastungen (§17 Abs. 1 BFSG).
Was ist konkret zu tun?
Was also müssen betroffene Unternehmen nun genau tun und beachten? Das ist gar nicht so einfach herauszufinden. In der BFSGV steht dazu zunächst folgendes:
"Damit Dienstleistungen die Anforderungen des § 3 Absatz 1 Satz 2 Barrierefreiheitsstärkungsgesetz erfüllen, müssen (...) 3. Webseiten, einschließlich der zugehörigen Online-Anwendungen und auf Mobilgeräten angebotenen Dienstleistungen, einschließlich mobiler Apps, auf konsistente und angemessene Weise wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gestaltet werden" (§12 BFSGV, Hervorhebung von mir)
Was das genau bedeutet, wird jedoch erstmal nicht geregelt. Hier wird in §3 Abs. 2 BFSGV lediglich darauf verwiesen, dass die Bundesfachstelle für Barrierefreiheit regelmäßig eine Auflistung der wichtigsten zu beachtenden Standards veröffentlicht, "aus denen die Barrierefreiheitsanforderungen (...) detailliert hervorgehen". Das ist bisher nicht geschehen. Die Bundesfachstelle für Barrierefreiheit verweist hier aktuell lediglich auf die - Stand 7. August 2024 noch in der Überarbeitung befindliche - EU-Norm EN 301 549, die Standards für die Bereiche Websites (Kapitel 9) und Software (Kapitel 11) festlegt.
EN 301 549 und die Erfolgskriterien der WCAG
Von der EN 301 549 wird eine Auflistung von Standards referenziert, die vom "World Wide Web Consortium" W3C, einer Organisation zur Entwicklung von Web-Standards, ausgearbeitet wurden: die Web Content Accenssibility Guidelines (WCAG) [Englisch]. Ihre Gliederung in dem für Websites relevanten Kapitel 9 entspricht den vier Punkten, die ich oben aus §12 BFSGV zitiert habe. Wir wollen sie uns im Einzelnen nun genauer ansehen:
Wahrnehmbar
Eine Website muss zunächst einmal in der jeweiligen Nutzungsweise wahrnehmbar sein (2-Sinne-Prinzip). Das ist technisch u.a. durch folgende Maßnahmen sicherzustellen:
- Beschreibende Alternativtexte für Bilder und Videos
- Untertitel für Videos
- Semantisch klare Seiten- und Inhaltsstruktur
- Responsive Darstellung der Inhalte auf allen Bildschirmen
- Vermeidung problematischer Farbkombinationen (z.B. Rot-Grün)
- Ausreichender Kontrast von Text und Nicht-Text-Objekten zum Hintergrund
- Ausreichende Zeilenabstände
- Zoombarkeit der Website auf mindestens 200%
- ...
Diese Punkte sind oft sehr genau definiert. So sind Inhalte nur responsiv, wenn sie auch bei einer Bildschirmbreite von 320 Pixeln und einer Höhe von 256 Pixeln noch problemlos angezeigt werden. Ein ausreichender Kontrast ist bei normaler Schriftgröße nur dann gegeben, wenn er im Verhältnis 4,8:1 vorliegt. Bei großem oder fettem Text reicht ein Verhältnis von 3:1, ebenso wie für Nicht-Text-Elemente.
Bedienbar
Auch Erfolgskriterien zur Bedienbarkeit einer Website sind in den WCAG geregelt und werden in EN 301 549 übernommen. So stellt man u.a. durch folgende Maßnahmen sicher, dass Menschen mit Behinderungen eine Website bedienen können:
- Ermöglichung der Tastatursteuerung mit einer sinnvollen Fokus-Reihenfolge
- Möglichkeit, automatisch loslaufende Inhalte zu stoppen, zu pausieren und zu verbergen.
- Möglichkeit, die Wiedergabegeschwindigkeit von Videos und Audio-Inhalten anzupassen.
- Vermeidung von blitzenden und schnell wechselnden Inhalten (wegen Epilepsie und ähnlichen Erkrankungen)
- Seitentitel und Beschreibungen
- Bereitstellung verschiedener Navigationswege (z.B. über Sitemaps oder Breadcrumbs)
- Sinnvolle Labels für Formularfelder
- ...
Insbesondere die Tastatursteuerung können Sie sehr einfach selber ausprobieren, indem Sie in einem beliebigen Browser (Firefox, Chrome usw.) auf die Tabulator-Taste drücken. Ein Fokus-Feld sollte sichtbar werden über einem Link, den Sie mit "Enter" anwählen können. Sie sollten auch mit Tab (bzw. rückwärts mit Umschalt+Tab) zwischen den verschiedenen Links vor- und zurückspringen können. Dabei sollte sich eine sinnvolle Reihenfolge ergeben.
Verständlich
Inhalte und Bedienelemente einer Website müssen darüber hinaus verständlich sein. Das sind sie u.a. dann, wenn folgende Dinge beachtet wurden:
- Die Sprache einer Seite und einzelner Elemente wurde im Code klar angegeben
- Die Navigation ist überall auf der Seite in sich schlüssig
- Fehlermeldungen und Labels sind klar erkennbar und verständlich
- ...
Robust
Das letzte Kriterium für die Barrierefreiheit nach WCAG ist die Robustheit. Dort finden sich u.a. folgende Erfolgskriterien:
- Die Website muss durch verschiedene User-Agents (Browser, Screen Reader etc.) auszulesen sein.
- Namen, Rollen und Werte von Formularelementen, Buttons etc. müssen klar und schlüssig definiert sein.
- Statusmeldungen (z.B. "Produkt wurde dem Warenkorb hinzugefügt") sollten so definiert sein, dass Screen Reader und andere Hilfsmittel sie auch dann bemerken, wenn sie nicht im Fokus sind.
- ...
Was noch zu beachten ist
Über §12 BFSGV und die Kriterien der EN 301 549 hinaus sind vor allem folgende Punkte noch wichtig:
- Websites müssen allgemein so entwickelt sein, dass sie auf "die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ausgerichtet sind und die Interoperabilität mit assistiven Technologien [wie z.B. Screen Reader, Anm.] gewährleisten" (§13 BFSGV).
- In Online-Shops müssen zu den jeweiligen Produkten und zur Website selber auch Hinweise zur Barrierefreiheit angegeben werden, soweit sie von Hersteller, Importeur etc. zur Verfügung gestellt wurden (§19 Nr. 1 BFSGV). Das bedeutet in der Praxis, dass Sie bald in Online-Shops eine Erklärung zur Barrierefreiheit ebenso finden müssen wie eine Erklärung zum Datenschutz.
- Eine Website muss mindestens eine Bedienungsform haben, die eine Nutzung bei fehlendem Sehvermögen und bei eingeschränktem Sehvermögen ermöglicht und eine, die keine Farbunterscheidung erfordert (§21 Abs. 1 BFSGV).
- Fotosensitive Anfälle auslösende Bedienelemente auf Websites sind zu vermeiden (§21 Abs. 6 BFSGV). Hier können m.E. vor allem Slider und Animationen auf Websites problematisch werden.
- Websites müssen mit mindestens einer Bedienungsform ausgestattet sein, "die Funktionen umfasst, die die Nutzung bei kognitiven Einschränkungen erleichtern und vereinfachen." (§21 Abs. 7 BFSGV). Das kann bedeuten, dass Navigation und die Kern-Inhalte der Website nicht zu kompliziert sein sollten. Lange Schachtelsätze, schwer verständliche Formulierungen und die Nutzung von Abkürzungen und Akronyme sollten möglichst vermieden werden (also habe ich mit diesem Text im Prinzip alles falsch gemacht...).
- Die Privatssphäre der Nutzer muss auch bei den barrierefreien Funktionen einer Website (z.B. bei Authentifizierungen) gewahrt bleiben, §21 Abs. 8.
Zusammenfassung und abschließende Gedanken
Es ist leider typisch für die EU-Gesetzgebung, dass selbst ein Jahr vor Inkrafttreten einer Norm (mit den entsprechenden Sanktions-Androhungen, die hier bis zu Bußgeldern von 100.000€ und der Abschaltung einer Website reichen) die praktischen Maßnahmen zur Umsetzung dieser Norm noch "in Arbeit" sind. Aber wir haben immerhin Anhaltspunkte, wie eine barrierefreie Website gestaltet sein sollte - und die sind auch eigentlich nichts Neues. Neu ist vor allem die rechtliche Verbindlichkeit auch für private Akteure.
So ausufernd wie die Maßnahmen vielleicht aussehen mögen - wenn man Barrierefreiheit bisher bereits in der Gestaltung und Entwicklung einer Website oder einer Software mitbedacht hat, ist sie kein großer zusätzlicher Aufwand. Anders mag es aussehen, wenn man einen bereits fertigen Online-Shop nachträglich barrierefrei gestalten muss. Aber noch ist ausreichend Zeit dafür - und ich kann betroffenen Unternehmen nur raten, dieses Thema nicht zu lange zu verzögern. Anders als damals bei Einführung der DSGVO gibt es hier deutlich weniger Fachleute, die zum Thema Barrierefreiheit beraten und nötige Maßnahmen umsetzen können.
Auch für diejenigen, die vom BFSG nicht betroffen sind, lohnt sich eine Beschäftigung mit dem Thema. Google z.B. rankt barrierefreie Websites konsequent höher in seinen Suchanfragen als andere. Und wie ich eingangs bereits sagte: Bei dem Thema geht es immerhin um rund 16% der Bevölkerung, darunter einen wachsenden Teil älterer Menschen mit einer hohen Kaufkraft. Anreize sind genug da - werden Sie aktiv!
Es könnte auch Sie treffen!
97% aller Menschen mit Behinderungen sind nicht damit geboren. Aber welches Unternehmen kann es sich heutzutage langfristig noch leisten, rund 16% seiner potenziellen Kunden von der Nutzung ihrer Website auszuschließen?
Schon aus diesem Grund sollte Barrierefreiheit selbstverständlich sein. Und sie ist auch weder teuer noch aufwändig, wenn sie bereits bei der Erstellung von Websites und Software mitgedacht wird.
Rufen Sie uns an und lassen Sie sich von uns zum BFSG beraten.