Antifragilität bei Software und Website

15. August 2024
Autor: Peter Schnoor   |   Lesezeit: 8 Minuten

In seinem gleichnamigen Buch definiert Nassim N. Taleb "Antifragilität" als Eigenschaft von Systemen, bei Stress, Unsicherheit und Chaos nicht nur zu überleben, sondern sogar davon zu profitieren und stärker zu werden. Wie kann das in unserem digitalen Leben aussehen?

Was ist Antifragilität?

Unternehmen, politische Systeme, aber auch wir als Menschen sind verschiedenen Stressoren und Druck ausgesetzt. Und während viele Risiken vorhersehbar sind - manche, besonders die ganz großen, sind es manchmal nicht. Sie treffen uns unvorbereitet. Das kann aus verschiedenen Gründen passieren. Manchmal kamen Ereignisse in der Vergangenheit noch nie in dieser Form vor. Wie ein schwarzer Schwan tauchen sie auf, wo bisher nur weiße Schwäne waren.

Aber wie gehen wir mit solchen Ereignissen um, wenn sie nicht vorhersehbar sind? Wenn sie aber gerade deshalb das größte Potenzial haben, unser Leben, unser Unternehmen, unsere Gesellschaft auf den Kopf zu stellen? Wie sollten wir Systeme organisieren, dass sie bei Druck und unvorhergesehenen Ereignissen nicht fragil in sich zusammenbrechen?

Diese Frage stellt sich auch Nassim Taleb in seiner "Incerto"-Reihe. Und stellt dabei fest: Intuitiv denken die meisten Menschen, dass das Gegenteil von "fragil" "stabil" wäre. Wie auf Autopilot versuchen sie daher, Systeme möglichst stabil zu konstruieren. Und vergessen dabei zwei Punkte. Erstens: stabile Systeme sind nur bis zu einem gewissen Punkt stabil. Und zweitens: ein stabiles System verändert sich im besten Fall überhaupt nicht. Das bedeutet aber auch: es profitiert nicht von Unvorhergesehenem.

Für das eigentliche Gegenteil von "fragil" hatten wir bisher gar kein Wort. Ein System, das unter Druck nicht zerbricht, sondern sogar davon profitiert, nennt Taleb daher "antifragil". Und findet es z.B. überall in der Natur. Wenn wir trainieren, legt unser Körper an Muskelmasse zu, aber nicht nur so viel, dass er die gleiche Übung später besser machen kann - sondern darüber hinaus! Bäume verstärken ihren Stamm an den Stellen, wo sie im Sturm am anfälligsten sind - aber mit mehr, als der bisher stärkste Sturm es erfordert hätte. Bäume profitieren also - bis zu einem gewissen Punkt - von Ereignissen, die schlimmer sind, als alle bisherigen. Denn während ein sturmerprobter Baum rechtzeitig genug Verstärkung an den wichtigen Stellen angelegt hat, fallen andere Bäume um, sobald sie neu an einer exponierten Stellung stehen.

Aus diesen Beispielen zieht Taleb Lehren für alle möglichen Arten von Systemen - von persönlicher Fitness über die Finanzmärkte bis hin zu Staatsformen und Arbeitsplätzen. Wir wollen in diesem Artikel einmal die digitale Welt beleuchten - und hier insbesondere Websites und Software. Wie kann man diese Bereiche antifragiler gestalten, um bei den nächsten schwarzen Schwänen nicht nur stabil zu sein, sondern davon sogar zu profitieren?

Der kleinste gemeinsame Nenner

Vielleicht erinnern sich manche von Ihnen noch an die Zeit der Flash-Websites Ende der 2010er Jahre? Flash war eine hippe neue Technologie, mit der sich Websites gestalten ließen, die mit anderen verfügbaren Technologien wie HTML und CSS undenkbar gewesen wären: Animationen, Übergänge und interaktive Elemente haben ein bisher nie dagewesenes Nutzererlebnis geboten. Und schnell war altmodisch, wer nicht zumindest teilweise Flash auf seiner Website eingebunden hatte.

Aber fast so schnell, wie das Phänomen kam, war es dann auch schon wieder vorbei. Flash war eine proprietäre Technologie von Adobe, die alle Website-Betreiber von diesem einen Anbieter abhängig machte. Es wurde zwar in vielen Browsern unterstützt, auch plattformübergreifend, und war damit in einer Zeit, wo Entwickler unter den verschiedenen Anforderungen der unterschiedlichen Browser litten (ja, du bist gemeint, Internet Explorer!) eine gewisse Erfrischung. Aber die Unterstützung schwand nach und nach, je mehr Sicherheitslücken in der Technologie auftauchten. Außerdem kamen neue Geräte auf den Markt, insbesondere die frühen iPhones, in denen Flash-Inhalte nicht ideal wiedergegeben wurden. Und so war es konsequent, dass Adobe 2017 die Reißleine zog und Flash 2020 auslaufen ließ.

Das bedeutete aber, dass sehr viele Betreiber ihre Websites praktisch komplett neu gestalten mussten. Und welche Technologien nutzten sie dafür? Vor allem HTML und CSS, die beide praktisch von Beginn des Internets an existierten und rückwärtskompatibel viele Entwicklungsphasen durchlebt haben.

Manche waren schlauer, und haben von Beginn an auf resiliente Technologien wie HTML, CSS und JavaScript gesetzt und Flash nur dort eingesetzt, wo es nicht kampfentscheidend war. Flash hatte ja seine Vorteile - aber einen kompletten Webauftritt auf einer neuen, nicht weltweit unterstützten Technologie aufzubauen, war für viele teuer und lehrreich.

Was ist das Flash von heute? Nun, von der Usability-Sicht aus gesehen gibt es immer wieder neue Technologien, die versprechen, den Markt der Websites und Software aufzurollen. Aber oft sind sie verbunden mit unnötigen Abhängigkeiten oder einer begrenzten Unterstützung. JavaScript z.B. ist eine robuste Technologie für Animationen und ähnliches, aber ganze Websites mit React, Vue oder Angular dynamisch als "Single Page Applications (SPA)" aufzubauen, erscheint nicht sinnvoll, wenn man bedenkt, dass mindestens 10% der Browser kein JavaScript unterstützen, sei es wegen Ad-Blockern, Barrierefreiheit oder bewusster Auswahl der Nutzer. Gleiches gilt, wenn auch aus anderen Gründen, für Web-Baukästen oder proprietären Angeboten einzelner Software-Schmieden.

Es ist nicht schlimm, Websites und Software auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner aufzubauen. Auf Technologien, die vielleicht nicht "cutting edge", aber dafür seit Jahrzehnten robust, zuverlässig und allgemein verbreitet sind. Wer seine digitalen Lösungen nicht im Zwei-Jahres-Rythmus komplett neu bauen oder wichtige Kundengruppen ausschließen will, setzt auf bewährte Standards. Und setzt neue Technologien nur dort ein, wo keine ungesunden Abhängigkeiten entstehen. So ist man gerüstet für die Zukunft - egal, welche neuen Gadgets und Bildschirme die Menschheit erfinden wird, die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass sie nicht die komplette bisherige Entwicklung der Programmier- und Gestaltungssprachen über den Haufen werfen werden. Und wer eine resiliente Website hat, die flexibel genug ist, sich an neue Technologien anzupassen, spart bares Geld und berücksichtigt gleich auch den zweiten Punkt: Raum für Trial and Error.

Trial and Error

Überlegen Sie mal: welche bahnbrechende Erfindung fällt ihnen spontan ein, die allein auf theoretischer Vorarbeit beruhte und die weder ein Zufallselement oder zumindest ein praktisches Herumtüfteln benötigte?

Neues auszuprobieren und kleine Verluste in Kauf zu nehmen, um mögliche große, aber bisher unentdeckte Vorteile zu realisieren, ist antifragiles Handeln in Reinform. Erfolg ist oft nicht planbar. Die meisten Durchbrüche entstehen durch kleine, auf den ersten Blick unbedeutende, Veränderungen. Hier spielt auch die Kommunikation mit den Kunden und die Möglichkeit, effektiv konstruktives Feedback einzuholen, eine große Rolle. Nicht zuletzt hierin liegt ein riesiger Vorteil von Online-Communities.

Diese Freiheit zu Trial and Error muss man sich aber leisten können. Und man braucht Strukturen, die es erlauben, zu tüfteln und auszuprobieren, was vielleicht klappt. Auf die Software und Internet-Welt bezogen bedeutet das: Softwarelösungen und Websites müssen flexibel genug aufgebaut sein, um neue Funktionen und Elemente einzubinden, ohne ihre Funktion und Nutzen zu gefährden. Oft machen bereits kleine Änderungen einen großen Unterschied. Wir erleben z.B. immer wieder, dass die Click-Through-Rate (also der Anteil der Nutzer, die auf einen bestimmten Link oder eine Anzeige klicken, im Verhältnis zur Gesamtzahl der Nutzer, die diese Anzeige oder den Link gesehen haben) sich schon durch kleinste Anpassungen massiv verändern kann. Da kann bereits ein Punkt an der richtigen Stelle eine entscheidende Rolle spielen.

Ist Ihre Website, oder ist die Software, die Sie nutzen, so aufgebaut, dass Sie schnell und ohne Probleme neue Funktionen ergänzen oder bestehende Funktionen anpassen können? Oder sind Sie gefangen in einem "Stack" (eine Kombination von Technologien, Frameworks und Tools, die zusammen verwendet werden, um eine Anwendung zu entwickeln und bereitzustellen), der so fragil und festgelegt ist, dass jede Änderung ein riesiger Aufwand ist? Wie wollen Sie so von unvorhergesehenen Ereignissen profitieren?

Viele Karten im Spiel

Im Deutschen gibt es eine Redewendung: "Alles auf eine Karte setzen" tut jemand, wenn er sich in einem bestimmten Punkt komplett von einer Sache abhängig macht. Er (oder sie) kann dann nur hoffen, dass diese Karte auch zieht.

Das ist fragiles Handeln. Antifragiles Handeln dagegen setzt auf Redundanzen und Alternativpläne. Es nimmt sich die Natur zum Vorbild, die - soweit die Effizienz es noch zulässt - alles Wichtige mehrfach vorhält. Der Schöpfer hat sich etwas dabei gedacht, wenn er uns zwei Augen, zwei Lungenflügel, zwei Nieren, zwei Beine, zwei Arme, zwei Ohren usw... gegeben hat.

Auf die digitale Welt übertragen liegen extreme Risiken darin, alles auf eine Karte zu setzen. Vermeiden kann man das aber z.B. durch Maßnahmen wie:

  • Nutzung von Technologien und Software, die auf mehreren Betriebssystemen funktioniert,
  • Nutzung von Technologien und Software, für die es nicht nur einige wenige Experten gibt,
  • Aufbau mehrerer unabhängiger Kanäle für Vertrieb und Kundenansprache,
  • Modularen Software- und Websiteaufbau mit austauschbaren Komponenten (keine unnötigen "Break-All-Plugins" oder "Locked-In"-Anbieter),
  • Nutzung redundanter Serversysteme mit Load-Balancing und Failovers,
  • Nutzung von georedundanten Angeboten (z.B. mehrere Serverstandorte an verschiedenen Orten weltweit),
  • Notfallpläne bis hin zu analogen Alternativen, wo möglich,
  • Testumgebungen für Updates,
  • Erstellung von regelmäßigen Backups und
  • Aussagekräftige Dokumentation von Projekten für spätere Entwickler...

Der Vorteil dieser Redundanzen ist nicht nur, dass die eigenen Systeme sicherer laufen, sondern darüber hinaus, dass sie wahrscheinlich auch dann noch laufen, wenn die regionale oder internationale Konkurrenz massive Probleme bekommt (z.B. durch einen Hackerangriff auf ein zentrales System, durch lokale Ereignisse wie den Ausfall eines Rechenzentrums oder durch den Fehler eines Programmierers).

Old is Gold

Ein Gedanke zum Schluss: Seien Sie allgemein vorsichtig bei neuen Anbietern, die Ihnen ein revolutionäres Produkt anbieten, das mit allem Bisherigen bricht. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass es dieses Produkt, diese Technologie, schon sehr bald nicht mehr geben wird.

Nassim Taleb hat dafür eine einfache Heuristik entwickelt, die er mit einem Augenzwinkern (und ohne Allgemeingültigkeit zu beanspruchen) empfiehlt. Er tut dabei etwas, von dem er sonst eher warnt: Er blickt in die Vergangenheit, um die Zukunft zu erraten. Konkret vermutet er, eine Technologie werde in der Zukunft noch ungefähr so lange existieren, wie sie bis heute bereits existiert. Statt für eine Vision der Zukunft also allerlei fantastische und exotische Technologien hinzuzuerfinden, gilt es eher, das Bewährte dort weiterhin zu vermuten und das Neuartige daraus wieder zu entfernen. Wir werden wahrscheinlich auch in hundert Jahren noch auf Stühlen sitzen und mit Gabeln essen, aber es ist wahrscheinlich, dass es viele der heute so angesagten Technologien dann nicht mehr geben wird. Sie werden vergehen, so wie Flash, seinem Namen gerecht, kurz aufflammte und dann wieder verschwand.

In der Digitalisierung sind viele versucht, mit der Vergangenheit ganz zu brechen und lieber etwas innovatives Neues zu erfinden. Das ist weder klug noch antifragil. Behalten wir, was sich bewährt hat. Und nutzen wir die bahnbrechenden Neuerungen, die unsere Gesellschaft hervorbringt, klug und maßvoll. Denn das ist nicht altmodisch, sondern vernünftig. Und es bereitet uns besser vor auf das, was wir noch nicht erahnen: unvorhergesehene Ereignisse.

Interesse geweckt?

Wir beraten Sie gerne und entwickeln mit Ihnen eine digitale Strategie, die Ihr Unternehmen resilienter und antifragiler aufstellt. Kontaktieren Sie uns noch heute und profitieren Sie von den Chancen von morgen!

Unterschrift
Peter Schnoor, Gründer Netjutant
kontakt@netjutant.de (+49) 8685 - 30998-22